Angesichts der Komplexität und Besonderheit der Ereignisse, die zur Gründung des Staatsarchivs Mailand führten, empfiehlt sich ein kleiner geschichtlicher Exkurs von den Anfängen bis in die Gegenwart.
Die Geburtsstunde des heutigen Staatsarchivs Mailand lässt sich auf das Jahr 1781 festsetzen, als die im Mailänder Castello di Porta Giovia aufbewahrten Dokumente im ehemaligen Jesuitenkolleg San Fedele angesammelt wurden. Im Jahr 1786 wurde eine Generaldirektion der Archive eingerichtet, auf die in der Napoleonzeit eine Generalpräfektur der Archive und Bibliotheken folgte, die dem Innenministerium unterstand. Mit der Rückkehr der Österreicher kehrte auch die Generaldirektion der Archive zurück, die später mit der Vereinigung Italiens zur Direktion der Archive wurde. Der Schriftgutansammlung in San Fedele lag die Besorgnis von Kaunitz, Hof- und Staatskanzler von Österreich unter Maria Theresia, zugrunde, dass das Archiv einer starken Gefahr ausgesetzt wäre, wenn es weiterhin im Kastell verbliebe, das zur Zeit der Ambrosianischen Republik im Jahr 1447 bereits mit den meisten Überlieferungen aus der Visconti-Ära zerstört worden war.
Die Dokumente aus der Herrschaftszeit der Sforza und später der Spanier und Österreicher bilden sozusagen die Keimzelle des Archivs, so wie wir es heute kennen. Im Archiv des Kastells befanden sich neben den Amtsunterlagen aus der Zeit der Sforza und einigen wenigen Schriftstücken aus der Visconti-Zeit, die die Zerstörung überlebt hatten oder anderweitig gerettet wurden, die Unterlagen des Geheimen Rats, der spanischen und österreichischen Kanzleien, der einstweiligen und provisorischen Regierungen und die Register der Statuten mit landesherrlichen Urkunden. Im Jesuitenkolleg San Fedele kamen im Jahr 1786 zu den vorgenannten Unterlagen die Archive des ordentlichen und außerordentlichen Magistrats, des neuen Kameralmagistrats und der Rechnungskammer hinzu, so dass sich das Regierungs- und Kameralarchiv an einem einzigen Ort konzentrierten. Die von Ilario Corte und Luca Peroni vorgenommenen Ordnungen nach Sachbetreff vereinten die beiden Bestände, was jedoch zum Verlust ihrer jeweiligen Identität führte. Daraus erwuchs schließlich ein einziger Archivbestand, aus dem sich dann der Bestand namens Regierungsakten ableiten sollte. Noch umfangreicher wurde das im San Fedele aufbewahrte Schriftgut durch die Zusammenlegung der Archive der Cisalpinischen Republik, der zweiten Cisalpinischen Republik und der Italienischen Republik, die größtenteils in die von Luca Peroni erstellten Serien einflossen.
An verschiedenen Orten entstanden zu verschiedenen Zeiten weitere Schriftgutansammlungen. In San Damiano floss das Archiv des Senats, der obersten staatlichen Justizbehörde, ein, zu dem sich die Schriftstücke der Curia dei podestà [Anm. d. Ü.: Podestà-Gerichtsbarkeit] und der Giudici di giustizia [Anm. d. Ü.: letzte Instanz] fügten, die das Justizarchiv bildeten. Im ehemaligen Kloster Santo Spirito wurden seit 1787 und später über die ganze Napoleon- und Restaurationszeit die Archive der vom Staat Mailand aufgehobenen Kircheneinrichtungen gesammelt, deren Neuordnung für die Tätigkeit des Religionsfondsamts erforderlich war, das 1787 für die Verwaltung des vakanten Vermögens in Leben gerufen wurde. Diese Neuordnung erfolgte ab 1839 nach der Methode von Luca Peroni. Das so entstandene Archiv blieb jedoch von den anderen Archiven getrennt. Außerdem war es bereits durch die Bildung des Diplomatikarchivs im San Fedele verkleinert worden, das 1816 von dort zum Pfarrhaus San Bartolomeo umzog, wo es autonom verwaltet wurde, um später wieder 1852 zum San Fedele zurückzukehren, wo 1865 dann auch der Religionsfonds einfloss.
Am Sitz des ehemaligen Helvetischen Kollegiums (Collegium Helveticum) war inzwischen das Militärarchiv mit den Dokumenten des Kriegsministeriums eingerichtet worden, das später zum San Fedele übersiedelte. Im Palazzo Marino hatte sich das Finanzarchiv konzentriert, das 1831 in das ehemalige Kloster Bocchetto umzog. Der Palazzo della Ragione, auch Broletto genannt, wurde zum Standort des öffentlichen Notariatsarchivs bestimmt, das Maria Theresia von Österreich zur Aufbewahrung der Akten der verstorbenen Notare einführte, die in der Grafschaft Mailand tätig gewesen waren.
Mitte des 19. Jh. reihten sich zur Schriftgutansammlung im San Fedele (Regierungs- und Kameralarchiv, napoleonische Archive, Justizarchiv, Religionsfonds, Militärarchive) die Ansammlungen der Finanzakten im Bocchetto und der notariellen Urkunden im Broletto. Das Schriftgut, das als Grundstock eines Staatsarchivs betrachtet werden kann, war folglich auf diese drei Standorte verteilt. Der namhafte Generaldirektor der Archive der Lombardei Luigi Osio war es dann, der das ehemalige Gebäude des Helvetischen Kollegiums und den späteren Sitz des napoleonischen Senats - als solcher ist es noch heute unter dem Namen Palazzo del Senato bekannt - als geeigneten Ort für die Aufbewahrung der gebildeten Schriftgutkomplexe auserkor, wo sie zu Studien- und Forschungszwecken zugänglich gemacht werden konnten, wenngleich der Weg von der Erwählung des Archivgebäudes bis hin zu seiner tatsächlichen Nutzung noch lang und hürdenreich sein sollte. Osio hatte das ehemalige Helvetische Kollegium bereits 1860 in Betracht gezogen, als er den Platzmangel für die Archive anmahnte. Auf diesen Missstand kam er 1866 wegen der fehlenden Aufnahmekapazität des San Fedele für neue Schriftgutabgaben zurück. Im Jahr 1871 folgten dann Kostenvoranschläge, Gutachten, Verdingungen für den Transport und die Unterbringung der Regierungs-, Justiz- und Finanzarchive im Kollegiumsgebäude. Doch noch im Jahr 1884 war von dem überaus langsamen Tempo die Rede, mit dem der Umzug der Archive vom San Fedele in den Palazzo del Senato erfolgte. Der Grund dafür waren Arbeiten zur Verstärkung der tragenden Gebäudeelemente. 1886 hatten endlich alle Archivbestände im Kollegiumsgebäude Platz gefunden, mit Ausnahme des Notariatsarchivs, das erst 1944 überkam. Das Justizarchiv hingegen wurde später in das ehemalige Kloster San Eustorgio umgelagert, wo es eine Außenstelle des Staatsarchivs bildete.
Dieser kleine geschichtliche Abriss zur Bildung, Ansammlung, Umlagerung und Unterbringung der Bestände in dem Gebäude, das heute noch ihr Verwahrungsort ist, vermittelt deutlich die Bandbreite und Mannigfaltigkeit der Unterlagen, die den Grundstock des Staatsarchivs bilden, in welches später die Archive einflossen, die von den Finanz-, Justiz- und Verwaltungsbehörden abgetreten wurden, die mit der Vereinigung Italiens entstanden und auf dem Gebiet der Provinz Mailand tätig waren (Unterlagen des Katasteramts, der Präfektur, des Landesgerichts, des Wehrbezirks, des Notariatsarchivs etc.). Nebst den „Säuberungen“, die das im 19. Jh. in den Bestand Atti di governo (Regierungsakten) eingeflossene Schriftgut größtenteils erfuhr, sowie den Verlusten und Zerstörungen von Archivgut infolge von Unruhen, Naturkatastrophen u.a., sei noch unbedingt der letzte gravierende Verlust infolge der Bombenangriffe auf Mailand im Jahr 1943 erwähnt, die das Kloster San Eustorgio schwer beschädigten und das dort aufbewahrte Justizarchiv größtenteils zerstörten. Auch der Palazzo del Senato wurde getroffen, wo gerade Bestände an sicherere Orte ausgelagert werden sollten und zahlreiche Unterlagen, darunter das Finanzarchiv, dem Bombenhagel zum Opfer fielen. Der zitierte Bericht (1) über die vom Staatsarchiv Mailand im 2. Weltkrieg erlittenen Schäden vermittelt einen Eindruck von der Tragweite der Verluste.
(Text veröffentlicht in Archivio di Stato di Milano, herausgegeben von M. B. Bertini und M. Valori - Reihe Archivi Italiani, Rom, Generaldirektion der Archive des Ministeriums für Kulturgüter und Kulturelle Aktivitäten - Civitavecchia, BetaGamma editrice, 2001, S. 13-16).
(1) I danni di guerra subiti dagli archivi italiani [Die Kriegsschäden der italienischen Archive], „Notizie degli Archivi di Stato“, aa. IV-VII, Roma 1944-47, numero unico, Roma 1950
Verfasst von Giovanni Liva, Staatsarchivar



